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Vergebung: Eine vergessene Tugend
in einer Kultur der Anklage

Nach einem im de'ignis-Magazin 40/2010 erschienenen Artikel von Dr. theol. Gerhard Maier, Landesbischof i.R. der württembergischen ev.-luth. Landeskirche und früherer Prälat von Ulm

Unsere Zeit ist eine Zeit der Hochkonjunktur verschiedenster „Kulturen“. Weil wir keine allgemeine Kultur mehr haben, sind unzählige Einzelkulturen entstanden: „Kultur des Streitens“, „Kultur des Friedens“, „Kultur des Gesprächs“, „Kultur des Hinsehens“ usw.

In unserer Zeit gibt es tatsächlich auch so etwas wie eine „Kultur der Anklage“. Meines Erachtens beginnt sie im pädagogischen Bereich. Die Erziehung hat sich jahrzehntelang auf die Rechte des Einzelnen, aber weniger auf seine Pflichten und die notwendige Solidarität der Gemeinschaft konzentriert. Ich-Stärke und oppositionelles Verhalten waren Leitsterne der Erziehung, Individualisierung und Egozentrik ihr Ergebnis. Zu den Ergebnissen zählt leider auch die Annahme eines Rechts, die Schuld zuerst bei anderen zu suchen und sie unter Anklage stellen zu dürfen. Die Gesellschaft befindet sich auf dem Weg einer ständigen Suche nach Sündenböcken. Passiert irgendwo ein Amoklauf, geschieht irgendwo eine Überflutung oder ein Erdbeben, kommt unweigerlich die Frage: Wer, welcher Mensch und welche menschliche Institution trägt daran Schuld oder Mitschuld?

Im gesellschaftlichen Bereich verfestigt sich diese „Kultur der Anklage“. Wie andere moralische Instanzen sind etwa die Kirchen unter Dauerfeuer. Ihr Recht auf die Entwicklung eigener, glaubensgemäßer Ordnungen wird in Zweifel gezogen, obwohl es im Grundgesetz und in den Landesverfassungen garantiert ist. Das Kruzifix, zugleich Symbol einer jahrtausendealten Geschichte und Kultur, wird aus dem Raum der Öffentlichkeit hinausgedrängt. Das eigene Fehlverhalten der Kirchen fordert allerdings solche Reaktionen und Anklagen geradezu heraus.

Eine Verfestigung der „Kultur der Anklage“ kann man auch im gesamten politischen Bereich beobachten. In der jüngeren Vergangenheit ist das am Umgang mit Thilo Sarrazin besonders anschaulich geworden. In wenigen Tagen vermischten sich berechtigte und unberechtigte Anklagen zu einem erdrückenden Konglomerat. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fühlte sich veranlaßt, die Frage nach der Meinungsfreiheit in unserem Staat zu stellen.

Umso auffälliger ist das Fehlen einer „Kultur der Vergebung“. Das letzte größere Ereignis, in dem die Vergebung eine Rolle spielte, war meiner Erinnerung nach die Ermordung dreier Christen unter scheußlichen Umständen im türkischen Malatya. Dort sprach die Frau eines der Ermordeten öffentlich aus, daß sie den Mördern vergebe. Aber wo wird Vergebung im öffentlichen Leben unseres Landes ausgesprochen und praktiziert? Und wo geschieht sie unter uns im persönlichen Bereich? Insofern liegt es nahe, von einer vergessenen Tugend zu sprechen.

Der christliche Ausgangspunkt der Vergebung liegt bei der Vergebung, die Gott dem sündigen Menschen schenkt. Bei ihm allein ist die Vergebung aus reiner Liebe, ohne den Gedanken der Kompensation oder des menschlichen Verdienstes. Diese göttliche Vergebung soll unser Leben so tief verändern, daß es wieder neu beginnen kann. Zugleich hat diese göttliche Vergebung eine feste Basis, von der aus sie in unser Menschenleben hineinwirkt. Sie ist nicht nur ein punktuelles oder gar „zufälliges“ Ereignis. Die feste Basis besteht in der Erlösung, die Jesus Christus gebracht hat und die unsere Sünden wieder beseitigte: „In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden“, sagt eine Kernstelle im Neuen Testament (Epheser 1,7).

Es ist nach dem Zusammenhang des Neuen Testaments, aber auch vom Charakter der Vergebung her klar, daß sie niemandem aufgedrängt wird. Sie kann nur im Vertrauen auf Gottes Zusage gesucht und angenommen werden.

Klar ist dann auch, daß in dieser christlichen Sicht die Vergebung beim Einzelnen ansetzt. Sie kann nicht einfach kollektiv ausgesprochen werden. Auch dort, wo einer ganzen Gemeinde oder einer Gruppe von Menschen Vergebung zugesprochen wird, bleibt immer noch die Frage, wie der Einzelne in der Gemeinde oder Gruppe damit umgeht. Höchst anschaulich kommt dies in der Abendmahls-Liturgie zum Ausdruck. Obwohl die ganze Gemeinde am Abendmahl teilnimmt, spricht doch jeder für sich das Schuldbekenntnis. Jeder geht für seine Person, um Brot und Wein, gleich Leib und Blut Christi zu empfangen, und jeder empfängt von diesen Elementen etwas, was keiner in der Welt jemals empfangen hat oder empfangen wird.

Die Vergebung wird ferner charakterisiert durch eine besondere Gewißheit. Zitiert sei noch einmal das alte Konfirmandenbuch der Württembergischen Kirche (Nr. 54): „Durch sein Wort ruft der Heiland uns Sünder in sein Reich und schenkt uns die Vergebung. Allen Verlorenen hat er versprochen: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen (Johannes 6,37)“.

Unter Umständen kann die von Gott geschenkte Vergebung auf den gesellschaftlichen und politischen Bereich übergreifen. Zwar wird sie dadurch keine „Tugend“ im Sinn der antiken Tugendlehre, aber ein Gegenpol zu einer Kultur der Anklage, und damit zum möglichen Ansatzpunkt einer „Kultur der Vergebung“. Dabei werden einige Punkte relevant sein:

Vergebung, die eventuell einer Kultur der Vergebung entspricht, wird niemals ihren religiösen Ausgangspunkt vergessen. Sie bleibt insofern ein Ausrufezeichen im öffentlichen Leben, das uns an die Existenz Gottes erinnert und zugleich unsere Verantwortung vor Gott bewußt macht.

Jeder Einzelne, der unter den gegenwärtigen Verhältnissen lebt, ist auf allen Gebieten herausgefordert, selbst Vergebung zu üben. Das macht eine ökonomisch und ökologisch, ja insgesamt rational durchdachte Handlungsweise keineswegs überflüssig. Vergebung geschieht ja gerade mitten in diesen Lebensverhältnissen und nicht außerhalb auf einem exotischen Kontinent. Derselbe Mensch, der Vergebung üben kann, muß ja ständig die Kosten seines „Turmbaus“ (seines Verhaltens) verantwortungsbewußt kalkulieren (Lukas 14,27-29). Dennoch muß sich der Einzelne auch immer wieder der Frage stellen: Wann habe ich das letzte Mal vergeben?

Vergebung eignet sich nicht dazu, ununterbrochen ausgesprochen und „gewährt“ zu werden. Bitte keine Inflation der Vergebung!

Eine letzte Erwägung: Wo man Vergebung auch in das wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Verhalten einbezieht, ist dies Ausdruck eines ganz bestimmten Menschenbildes. Hier wird dann ernst gemacht mit der Erkenntnis, daß wir alle Sünder sind. „Der gute Mensch“ als Idealbild einer Ideologie oder Weltanschauung muß hier der menschlichen Realität weichen, die sich in den Worten zusammenfassen läßt:

Wir sind im höchsten Maß geliebte Menschen - nämlich von Gott geliebt - aber nach unserer Erkenntnis zugleich sündige Menschen, die auf Vergebung angewiesen sind.

Über den Autor

Dr. theol. Gerhard Maier, geb. 1937, war von 2001 bis 2005 Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er war Prälat in Ulm und Studienleiter des Albrecht-Bengel-Hauses in Tübingen. Außerdem ist er ist Autor vieler wegweisender Bücher (u.a. des Endzeit-Buchs „Er wird kommen“, Rezension) und einschlägiger theologischer Fachliteratur. Derzeit (2010) ist er Gastprofessor an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel und an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Heverlee/Leuven (Belgien).

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